Die Kanone steht für einen kurzen, aber sehr entscheidenden Zeitabschnitt in der Geschichte Stickhausens und Ostfrieslands. Sie erinnert auch an den Widerstand der Ostfriesen gegen die „Kriegspflicht“ in der napoleonischen Armee und Marine.
Nach der Niederlage Preußens gegen die Truppen Napoleons besetzten 1806 holländische Soldaten Ostfriesland, das seit 1744 zu Preußen gehörte. Aus der preußischen Provinz Ostfriesland wurde das „Departement Oostfriesland“ des mit Frankreich verbündeten Königreichs Holland. 1811 wurde Ostfriesland zum „Département de l’Ems-Oriental“ des französischen Kaiserreichs. Stickhausen blieb Verwaltungssitz, aus dem „Amt Stickhausen“ wurde das „Kanton Stickhausen“ im „2. Arrondissement“ des Departements.
In Ostfriesland galt jetzt französisches Recht: Gleichheit vor dem Gesetz, freie Berufswahl, Ende des Zunftzwangs, Trennung von Kirche und Staat. Die Zivilehe wurde eingeführt, ein Friedensrichter sprach Recht, Längen- und Gewichtsmaße – bis dahin in jedem Dorf unterschiedlich – wurden vereinheitlicht, Adel und Kirche mussten Steuern zahlen.
Die Folgen der französischen Kriegswirtschaft trafen die Bevölkerung schwer. Über indirekte Steuern mussten die Bürger ihren Anteil an den Zwangsgeldern leisten, die das „Département de l’Ems-Oriental“ nach Paris zu schicken hatte.
Dazu kam die Kontinentalsperre: Um seinen erbittertsten Feind, England, zu treffen, verbot Napoleon nicht nur den Handel mit dem Vereinigten Königreich, sondern jegliche Aus- und Einfuhr über See. Das traf die Ostfriesen besonders stark, denn viele lebten von der Schifffahrt und dem Handel mit Übersee.
Einziger Ausweg war der Schmuggel. Das damals britische Helgoland war das Zentrum des Schmuggelhandels. Schiffe liefen nachts heimlich aus den ostfriesischen Sielhäfen aus, auf der Insel wurden dann mit britischen Händlern Waren getauscht. Über den „Schmuggelpad“ zwischen Deternerlehe und Vreschen-Bokel kamen bei Nacht und Nebel Tee, Kaffee und „Manchester-Stoffe“ aus dem unbesetzten Oldenburg ins französische Stickhausen – ein gefährliches, aber lukratives Geschäft.
Eines der Opfer der Kontinentalsperre war Johann Bünting. Der 24jährige Oldenburger hatte 1806 in Leer ein Geschäft übernommen. Sechs Monate später trat die Kontinentalsperre in Kraft, ein schwerer Schlag für den 24jährigen Kaufmann. Um seine Kunden weiterhin mit Tee zu versorgen, verkaufte er geschmuggelten Tee, wurde erwischt und für zwei in ein französisches Gefängnis gesperrt.
In Stickhausen durchsuchten französische Zollbeamte, die gefürchteten Douaniers, nicht nur jedes Schiff, dass über die Jümme kam. Sie drangen auch in Privathäuser ein, machten Jagd auf Schmuggelware und versetzen die Bürger in Angst und Schrecken.
Und mit noch etwas machten sich die Franzosen unbeliebt: Die französische Obrigkeit verordnete den Ostfriesen ein neues Namensrecht. Bis dahin hatten bis auf Ausnahmen vor allem aus der Oberschicht, viele keinen festen Nachnamen. Die meisten Ostfriesen nahmen einfach den Rufnamen des Vaters als ihren Nachnamen: Der Sohn von Fokke Peters hieß Peter Fokken und dessen Sohn hieß wieder Fokke Peters. Frauen behielten nach der Heirat ihren Mädchennamen.
Die Franzosen machten mit diesem Durcheinander ein Ende: Der Vater mußte einen Familiennamen auswählen, ihn beim Bürgermeister, dem „Maire“, anmelden und ab dann durfte der Nachname nicht mehr geändert werden. Weil Männer damals häufig Jan hießen, ließen sich viele als „Janssen“ registrieren. Und dabei blieb es. 1
Den größten Unmut erregte allerdings eine viel einschneidendere Anordnung: Unter dem französischen Regime wurden erstmals in der Geschichte Ostfrieslands Männer zwangsweise zum Militärdienst einberufen. Im Frühjahr 1811 wurden erstmals alle ledigen Männer im Alter von 23 Jahren gemustert. Im Losverfahren wurde festgelegt, wer die Uniform anziehen musste.
Die Kriegspflicht wurde von den Ostfriesen empört abgelehnt. Es gab überall zum Teil gewaltsame Proteste. In Detern mussten sich Anfang April 1811 die Dienstpflichtigen in der Kirche einer Musterungskommission stellen. Nachdem einen Tag zuvor in Leer bei der Musterung in der lutherischen Kirche die französischen Beamten unter dem Präfekturrat Wiarda von der aufgebrachten Menge mißhandelt worden waren und die Musterung abgebrochen werden musste, hatten diesmal die Behörden eine Kompanie Soldaten nach Stickhausen geschickt. Die Soldaten sollten für Ruhe sorgen.
Doch die zur Musterung anstehenden Männer weigerten sich kategorisch, die Musterung in der Kirche vorzunehmen. Sie verlangten, dass die Auslosung, wer in den Dienst gezwungen wird und wer nicht, unter freiem Himmel stattfindet. Aus Angst vor einem Blutbad gab der Präfekt nach.
Besonders die Seeleute, für die es eine extra Aushebung gab, weigerten sich und es kam in ganz Ostfriesland und auf den Inseln zu Aufständen und Tumulten. Die französischen Behörden schlugen mit Härte zurück, riefen das Militär und ein französisches Kriegsgericht verurteilte in Aurich einen Großefehntjer und einen Moordorfer wegen Widerstands zum Tode. Sie wurden erschossen. Innerhalb von zwei Jahren wurden in sechs „Conscriptionen“ 2326 Ostfriesen in den französischen Militärdienst gezwungen. Wie viele davon verwundet wurden oder umkamen, ist nicht überliefert.
Ein 54 Jahre alter Mann aus Rhaude wurde in dieser Zeit wegen seines Einsatzes für die Verwundeten berühmt: Johann Christian Reil, dessen Vater in den 1760er Jahren Pastor in Detern war, gehörte zu den bedeutendsten Ärzte seiner Zeit und war Professor der Medizin an der Berliner Charité in Berlin. Nach der Völkerschlacht bei Leipzig im Oktober 1813 verließ er Berlin und übernahm die Leitung mehrerer Militärlazarette, in denen 30.000 Verwundete lagen. Obwohl er krank war, kümmerte er sich aufopferungsvoll um die Verwundeten. Er starb noch im gleichen Jahr an Typhus.
Im Oktober 1813 wurde die französische Armee unter Napoleon in der Völkerschlacht bei Leipzig geschlagen. Im November tauchten in Stickhausen die ersten Soldaten der siegreichen Koalition aus Preußen, Russen, auf: Kosaken. In den folgenden Tagen sammelten sich gut 2000 Kosaken östlich von Leer und drängten die französischen Besatzungssoldaten zur Ems. Am 13. November 1813 verließ der letzte Franzose über Ems bei Leerort Ostfriesland. Ostfriesland fiel wieder an Preußen. Das „Département de l’Ems-Oriental“ war Vergangenheit.
Fußnoten:
1 Aus welchem Grund genau Bünting in Haft war, ist uns unbekannt. Da er einen Kolonialwarenladen betrieb, in dem Tee zu dem Zeitpunkt aufgrund des hohen Preises eine untergeordnete Rolle spielte, ist es unwahrscheinlich – aber nicht unmöglich – dass er wegen Teeschmuggel verhaftet wurde. Wahrscheinlicher ist aber einfach ein Zollvergehen beim Tabak. Der war damals weitaus wichtiger und in der Regel haben die „deutschen“ Händler es nicht eingesehen, auf ihren Tabak im Lager neue Gebühren zu bezahlen unter der französischen Besetzung. Er wurde von Leer zunächst in die Festung Groningen gebracht und war dann in Valenciennes im Arbeitslager (Steinbruch). Im November 1813 wurde Leer von der französischen Fremdherrschaft durch Preußen befreit und im selben Monat wurde Johann Bünting freigelassen. Während seiner Haft hatte seine Frau Eta (geb. Klopp) das Geschäft geleitet. 1813 kaufte Bünting das heutige Stammhaus in der Brunnenstraße von seinem Pächter und gründete kurze Zeit darauf zusammen mit seinem Schwager Weert Klopp offiziell die Firma J. Bünting & Companie.
Quelle: Bünting-Stifung
2Aus dem bisher Gesagten geht hervor, daß jemand, der nicht mit der ostfriesischen Tradition der patronymischen Namensgebung vertraut war, sich in diesem scheinbaren Namensschaos nur schwer zurechtfand. Das galt besonders für landesfremde Pastoren und Beamte.
Bereits vor dem 19. Jh. waren hier und da feste Familiennamen in Ostfriesland in Gebrauch. Das betraf vor allem die Pastoren und andere Familien höheren Standes. Weiter muß auf ein Phänomen verwiesen werden, das bisher kaum Beachtung gefunden hat, daß nämlich vor dem Beginn der Kirchenbuchführung im 17. Jh. in der Namensgebung auch in Ostfriesland, und insbesondere in Uplengen, zweigleisig verfahren wurde. Es gab eine ganze Reihe von Familien, die einen festen Familiennamen führten, während andere die patronymische Form bevorzugten. Mit der Kirchenbuchführung sollte auch diesem Durcheinander eine Ende gesetzt werden. Die Kirchenbuchführer hatten offensichtlich Anweisung, nur die patronymische Namensgebung gelten zu lassen. In einzelnen Familien wurden die ehemaligen festen Nachnamen von nun an nur noch mündlich tradiert, wenigstens bei denen, die auf der ererbten Hofstelle blieben. Diese Namen tauchen plötzlich im 19. Jh. wieder auf, als es um die Einführung fester Familiennamen ging, z.B. Steenblock, Höveling, Hemken, Remmers u.a.m.
Der erste Versuch, die Ostfriesen zum Führen fester Familiennamen zu verpflichten, unternahm Napoleon per Dekret vom 18.8.1811. Da seine Herrschaft nicht von langer Dauer war, kam dies Dekret kaum zur Anwendung. Erst der Hannoverschen Regierung gelang es, die Ostfriesen auf Dauer zum Führen fester Familiennahmen zu veranlassen. Dies neue Namensrecht orientierte sich nach französischem Vorbild an den Gepflogenheiten des Adels. Ihre Privilegien, die auch in ihrem Namensrecht zum Ausdruck kamen, wurden demokratisiert auf das ganze Volk ausgedehnt.
Der feste Familienname war das Erkennungszeichen des Hauses oder der Familie. Alle Kinder tragen den Familiennamen des Vaters, der Name wird erblich. Die verheirateten Frauen ordneten sich dem Namen des Ehemannes unter, durften ihren angstammmten Namen aber weiterführen unter Hinzufügung des Wortees „geborene“. Als Beispiel dafür sei an die Gräfin Anna von Ostfriesland erinnert, die sich auch immer eine geborene von Oldenburg und Delmenhorst nannte. In Uplengen hatten etwa zur Zeit der Französischen Revolution die Pastoren- und Beamtenfamilien bereits diese Praxis aufgegriffen.
Mit anderen Worten, die strikte Einhaltung der patronymischen Namensgebung wurde aus der Sicht aufgeklärter und der Revolution verbundener Geister als ein Relikt einer unaufgeklärten Vergangenheit und der Unterdrückung des einfachen Mannes angesehen. Da die Ostfriesen sich aber durch diese Namenspraxis niemals unterdrückt gefühlt hatten, sie vielmehr diese Art der Namensgebung als die ihnen entsprechende völlig verinnerlicht hatten, begegneten sie allen Reformabsichten mit Abneigung und passivem Widerstand.
So kam es dazu, daß für Jahrzehnte die alte und die neue Namensform nebeneinander herliefen und zu der dreiteiligen Namensform vermischt wurden. Vor dem hintenangestellten Familiennamen lebte die patronymische Form weiter, z.B. im Falle meiner Familie Heye Christians Meyer.
Erst die Generation nach dem 2. Weltkrieg hat sich endgültig von dieser Tradition verabschiedet, da das Verständnis dafür allmählich erloschen war. Möglicherweise wäre diese Form der Namensgebung schon viel früher verloren gegangen, wenn sie nicht durch die Kirchenbuchführung über Jahrhunderte hinweg festgeschrieben worden wäre. Dessen war man sich aber bei der Verwirklichung der Reformen nicht bewußt.
Quelle: Archiv Heinze